"Anne Will" zu Hartz IV
Multiple Vermittlungsverhängnisse
Lange hat die SPD still darüber gegrübelt, wie mit Hartz IV umzugehen sei. Was manche für ihren größten Verdienst halten, nennen andere ihre größte Sünde. Inzwischen ist aus der Grübelei ein hörbares Selbstgespräch geworden, und da wollen auch andere mitreden. Konservative, die Hartz IV für einen phänomenalen Erfolg halten. Grüne, die Hartz IV nicht abschaffen, sondern "überwinden" wollen. Linke, die es gern durch ein bedingungsloses Grundeinkommen ersetzen möchten.
Anne Will hat an diesem Abend Vertreter aller Lager eingeladen, und immer wieder sind sie sich überraschend einig. Immer wieder versichert einer dem anderen, er sei "ganz bei Ihnen!", aber nie ist jemand bei Hubertus Heil, SPD-Bundesminister für Arbeit und Soziales, der gerade mit einem Budget von vier Milliarden Euro an einer praktischen Antwort auf die Frage der Sendung arbeitet: "Hartz IV - reformieren oder abschaffen?"
Geplant ist ein mit öffentlichen Mitteln geförderter Arbeitsmarkt, um 150.000 "Kunden mit multiplen Vermittlungshemmnissen" die "Teilhabe am Arbeitsmarkt" zu ermöglichen, beispielsweise, wie Heil ausführt, "als Zeugwart bei der Feuerwehr". Dieser bekomme dann nicht mehr Miete und Hartz IV überwiesen, sondern, stattdessen, einen sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplatz finanziert. Sein Tag bekäme Struktur, er selbst eine sinnvolle Aufgabe. Voilà, der "soziale Arbeitsmarkt".
Fein? Nicht ganz.
Rainer Hank, Wirtschafts-Ressortleiter der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung", gehört zu den Leuten, die Hartz IV für "eine säkulare historische Zäsur in Nachkriegsdeutschland" halten. Sein Fazit: "Die Menschen sind zufrieden!" Keineswegs sei Hartz IV gescheitert. Allerdings hätten "wir Flüchtlinge im Land aufgenommen", die nun nach und nach in das System einwanderten und die Statistik dramatischer erscheinen ließen, als sie ist. Daraus aber sei doch bitte "keine Elendsdebatte" zu machen.
Inge Hannemann weigerte sich als Mitarbeiterin beim Jobcenter, Sanktionen zu verhängen, ging zu den Linken und schrieb das Buch "Die Hartz-IV-Diktatur". Sie sieht die Sache naturgemäß anders und betont, Hartz IV zwinge Menschen in den Niedriglohnsektor. Der soziale Frieden sei gefährdet, da wir zwischen Arbeitenden und Nichtarbeitenden, also zwischen Fleißigen und Faulen unterscheiden würden. Hartz IV stigmatisiere, helfen würde nur ein "echtes bedingungsloses Grundeinkommen".
"Solidarisches Grundeinkommen" - was soll daran solidarisch sein?
Nebenbei abgehandelt wird der Vorschlag des Regierenden Bürgermeisters von Berlin, der vorgeschlagen hatte, alternativ oder ergänzend zum "sozialen Arbeitsmarkt", einen "solidarischen Arbeitsmarkt" zu schaffen: Langzeitarbeitslose könnten auf freiwilliger Basis in kommunalem Auftrag etwa Parks reinigen, Senioren die Einkaufstüten tragen oder Kinder beaufsichtigen und dafür gäbe es ein "solidarisches Grundeinkommen" auf Mindestlohnbasis.
Dies erinnert die Runde nun erst recht an die berüchtigten Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen (ABM) früherer Jahrzehnte. "Solidarisch ist daran gar nichts", sagt Robert Habeck von den Grünen, und ein Grundeinkommen sei das ebenfalls nach keiner ihm bekannten Definition. Außerdem würden durch diese eher kurzfristigen Maßnahmen reguläre und ehrenamtliche Jobs verdrängt. Heil: "Wir werden nicht das Ehrenamt verstaatlichen", da ist der Minister "ganz bei" Habeck.
Der fühlt sich damit nicht wohl und geißelt noch einmal Gerhard Schröders Satz, es gebe "kein Recht auf Faulheit". Das "systemische Problem" bei Hartz IV drücke sich in der Annahme aus, Menschen seien persönlich für ihre Arbeitslosigkeit verantwortlich. Zumal, merkt Heil an, ziehe Arbeitslosigkeit nach einer gewissen Zeit noch ganz andere Probleme nach sich.
Nicht Lässigkeit sanktionieren, sondern Fleiß belohnen
Das bestätigt auch Ingrid Hofmann, Inhaberin einer Zeitarbeitsfirma. Warum lassen sich die 845.000 Langzeitarbeitslosen nicht auf die mehr als 1,2 Millionen offenen Stellen am Arbeitsmarkt verteilen? Weil sie nicht qualifiziert oder nicht kompatibel seien, persönliche Probleme hätten - oder Unternehmen einfach vom Mitnahmeeffekt profitierten. Anstelle von Sanktionen würde sie "den umgekehrten Weg" gehen. Es müsste nicht Lässigkeit sanktioniert, sondern Fleiß belohnt werden.
Sinnvoll sei auch, wirft Journalist Hank ein, die Zuverdienstmöglichkeiten für Hartz-IV-Bezieher zu erhöhen. Weil auf diese Weise durch eigenes Engagement womöglich echte Arbeitsverhältnisse entstünden. Da wird Heil ganz markig: "Nein, so nicht!"
Die Sanktionen will er sich immerhin "alle angucken", verspricht er und: "Die, die unsinnig sind, kommen weg." Einerseits solle sich "niemand, der auf den Sozialstaat angewiesen ist", dafür schämen: "Denn dafür ist der Sozialstaat da." Andererseits bleibe Deutschland eine Arbeitsgesellschaft, und die dürfe "verdammt noch mal kein gestörtes Verhältnis zu geregelter Arbeit bekommen". Helfen würde sein Modell des öffentlich geförderten Arbeitsmarktes vor allem älteren Menschen oder alleinerziehenden Müttern, ganz konkret.
Was Habeck wiederum zu konkret ist: "Ab einer gewissen Grenze ist es reizvoller, arbeitslos zu sein als in Arbeit. Das ist doch das System! Da muss man doch die Systemfrage stellen!" Einem SPD-Politiker darf man mit der Systemfrage natürlich nicht kommen. Heil konzediert, das Gesetz sei "50 Mal verändert worden" in den letzten Jahren. Er wolle es reformieren, dies offenbar aber bis zur Unkenntlichkeit: "Mein Ziel ist, dass wir in fünf Jahren den Begriff Hartz IV nicht mehr haben."