Blockierte Rettungsgassen
Was der Zeitverlust für Unfallopfer bedeutet
Im Sommer hat das Deutsche Rote Kreuz (DRK) an alle Kreis - und Landesverbände einen Fragebogen geschickt. Die Zentrale wollte wissen, wie groß das Problem mit den blockierten Rettungsgassen ist.
96 Rettungsteams aus ganz Deutschland haben geantwortet. Das Ergebnis ist beunruhigend: Mehr als 80 Prozent der Einsätze werden durch blockierte Rettungsgassen verzögert. Vom Stauende bis zum Einsatzort haben die Helfer deswegen im Schnitt fünf Minuten länger gebraucht. Die Umfrage ist nicht repräsentativ, sagt eine Sprecherin des DRK.
Doch sie verdeutlicht, wie gravierend die Folgen blockierter Rettungsgassen sein können. Florian Reifferscheid kennt das Problem aus der Praxis. Im Interview berichtet der Notarzt von respektlosen Autofahrern - und warum manchmal jede Minute zählt.
Zur Person
- DRK Landesverband Hamburg
SPIEGEL ONLINE: Fünf Minuten verlieren Rettungshelfer laut der DRK-Umfrage im Schnitt, wenn die Rettungsgasse blockiert ist. Was heißt das für Sie in der Praxis?
Reifferscheid: Das ist ein entscheidender Zeitraum. Bei schwer Verletzten kann die Verzögerung gravierende Folgen haben, Behinderungen etwa, oder im schlimmsten Fall den Tod.
SPIEGEL ONLINE: Woran sterben die Menschen?
Reifferscheid: Durch einen Unfall kann ein Patient beispielsweise bewusstlos werden. Seine Zunge fällt nach hinten, blockiert den Atemweg und er erstickt. Oder eine Fahrerin knallt gegen ihren Lenker, durch die Wucht wird die Lunge verletzt. Dann kann Luft austreten und zwischen Lunge und Rippen gelangen. Da sie weiter atmet, vergrößert sich die Luftmenge und behindert den Blutfluss zum Herzen. Es wird nicht mehr ausreichend gefüllt, der Kreislauf kommt zum Erliegen und die Patientin stirbt. Verbluten ist ebenfalls eine große Gefahr.
SPIEGEL ONLINE: Also zählt jede Minute.
Reifferscheid: Es geht nicht bei jedem Einsatz um Leben und Tod. Die Zahl der tödlichen Unfälle ist in den vergangenen Jahren glücklicherweise gesunken. Aber bei bestimmten Diagnosen wie einem Schädel-Hirn-Trauma oder einem Schlaganfall sollen im Idealfall höchstens 60 Minuten zwischen dem Notruf und der Behandlung in einer geeigneten Klinik vergehen. Das ist selbst unter optimalen Bedingungen eine Herausforderung. Wenn dann noch die Rettungsgasse blockiert ist, verlieren wir wertvolle Zeit.
SPIEGEL ONLINE: Haben Sie das schon mal erlebt?
Reifferscheid: Das hat jeder von uns schon einmal erlebt. Ich musste auch schon aussteigen und die letzten Meter zur Unfallstelle laufen. Oder einen Autofahrer ansprechen, der im Weg stand.
SPIEGEL ONLINE: Wie erklären Sie sich dieses Verhalten?
Reifferscheid: Oft ist kein Platz, um auszuweichen, etwa wegen einer Baustelle. Viele sind überfordert mit der Situation oder haben gar nicht mitbekommen, dass ein Rettungswagen vorbei will. Sie sind abgelenkt, hören laute Musik, telefonieren. Das sind vermutlich eher Wahrnehmungsprobleme als Ignoranz.
SPIEGEL ONLINE: Lässt sich das so klar unterscheiden?
Reifferscheid: Sagen wir: Es gibt ein unterschiedliches Gespür für die Notwendigkeit, an die Seite zu fahren. Gelegentlich rege ich mich schon über Autofahrer auf. Etwa, wenn sie in Ruhe abbiegen, obwohl sie uns kommen sehen. Wir erleben eine gewisse Verrohung. Da gibt es Leute, denen es wichtig ist, dass der Rettungswagen weggefahren wird, weil sie parken wollen.