
Die Lage am Dienstag
Liebe Leserin, lieber Leser,
wer die Zeitungen von heute liest, könnte denken, dies ist nicht 2019, sondern 1995 oder 1985. Die SPD ist eine rote, die CDU eine schwarze Partei, sozial ausgerichtet die eine, konservativ-national die andere. So wie es früher immer war.
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Heft 7/2019
Mama, Papa, Pendelkind
Besser umgehen mit der Trennung - Vorstoß für ein neues Familienrecht
Die Union verabschiedet sich von Angela Merkels Flüchtlingspolitik und will die Zuwanderung über Asylverfahren stark eindämmen, die SPD verabschiedet sich von Gerhard Schröders Hartz-IV-Politik und möchte Arbeitslosen bessere Bedingungen einräumen. Zurück zu den Wurzeln.
Wenn das so bleibt, ginge eine gut 20-jährige Phase zu Ende, in der sich die beiden Volksparteien programmatisch annäherten und verwechselbar wurden. Die Große Koalition war eine logische Konsequenz davon. Umgekehrt gilt: Wenn sich SPD und Union auf ihre Traditionen besinnen und schärfer voneinander abgrenzen, sollten sie sich und das Land nicht allzu lange mit einer Großen Koalition quälen.
Eine Unverfrorenheit sondergleichen
Den wohl absurdesten Termin des Tages gibt es im Europäischen Parlament in Straßburg. Dort diskutiert Italiens Premierminister Giuseppe Conte über die Zukunft Europas. Contes Stellvertreter Luigi Di Maio hat kürzlich in Frankreich Vertreter der "Gelbwesten"-Bewegung getroffen. Zu deren Zielen gehört der Sturz von Präsident Macron. Die Franzosen zogen daraufhin vorübergehend ihren Botschafter aus Rom ab.
Das klingt eher nach Kaltem Krieg als nach Europäischer Union. Es klingt eher nach der Zeit der Provokationen vor dem Ersten Weltkrieg als nach dem Jahr 2019. Di Maios Besuch war ein schwerer Eingriff in die politischen Verhältnisse des Nachbarlandes, eine Unverfrorenheit sondergleichen.
Conte vertritt heute in Straßburg eine Regierung, die Motive aus der Vergangenheit Europas aufgreift. Bevor er sich zur Zukunft äußert, sollte er sich für seinen Stellvertreter entschuldigen.
Endlich mehr Videoüberwachung
Heute ist ein guter Tag, denn heute wird die Videoüberwachung ausgedehnt. Nichts bleibt mehr im Verborgenen, nicht einmal das Sterben. Big Brother sieht alles, und das kann man in diesem Fall nur loben, oder? Man will das Beste, man will sich human zeigen. Niedersachsens Landwirtschaftsministerin Barbara Otte-Kinast, Handelsverbände, kommunale Veterinärbehörden und Vertreter der Fleischwirtschaft unterzeichnen heute in Westerstede eine Vereinbarung über die freiwillige Videoüberwachung in Schlachthöfen.
Es geht um den Tierschutz. Überwacht aber werden Menschen, damit sie Tiere nicht unnötig quälen. Das mag richtig sein. Aber was ist, wenn öffentliche Plätze mit Kameras überwacht werden, damit Menschen nicht andere Menschen angreifen oder bestehlen? Wenn das falsch wäre, der Weg in den Überwachungsstaat, wären uns dann Tiere wichtiger als Menschen? Ich bin jetzt verwirrt.
Verlierer des Tages
In Madrid fehlt heute ein Mann. Das ist Carles Puigdemont, Anführer der katalanischen Unabhängigkeitsbewegung. Er weilt wahrscheinlich in Brüssel, jedenfalls nicht in Madrid, wo der Prozess gegen ein Dutzend seiner ehemaligen Mitstreiter beginnt. Ihnen wird unter anderem vorgeworfen, zur Rebellion angestiftet zu haben, weil sie die Unabhängigkeit Kataloniens betrieben, unter anderem mit einem Referendum. Als es brenzlig wurde, hat sich Puigdemont ins Ausland abgesetzt.
Ich kann verstehen, dass man sich nicht freiwillig für eine lange Zeit ins Gefängnis begibt, denn den Angeklagten drohen Haftstrafen. Aber so richtig würdevoll ist es nicht, als Anführer in Freiheit zu leben, während die ehemaligen Gefährten hinter Gittern hocken. Deshalb, und mehr noch, weil ich Separatismus für einen Irrweg halte, ist Puigdemont mein Verlierer des Tages.
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Ich wünsche Ihnen einen schönen Start in den Tag.
Ihr Dirk Kurbjuweit