Zukunft der englischen Nationalmannschaft
Gut gebrüllt, Löwen
Gareth Southgate ist kein Zauberer. Und doch hat der ehemalige Spieler von Crystal Palace, Aston Villa und Middlesbrough bei der englischen Nationalmannschaft einen solchen Wandel auf so vielen Ebenen vollzogen, dass manche Beobachter über Magie nachdenken.
Das Verhältnis vieler Engländer zu ihren Three Lions war über Jahre gespalten. Die Sehnsucht nach dem ersten großen Titel seit 1966 war ungebrochen, doch die vielen Enttäuschungen, die öffentliche Abschottung des Teams und die große Diskrepanz zum Klubfußball ließen die Begeisterung Stück für Stück kleiner werden. Bis Southgate kam, der seit der Niederlage gegen Deutschland bei der Heim-EM 1996 das Image des Verlierers verkörperte.
Der ehemalige U21-Nationalcoach sorgte für eine Versöhnung mit der kritischen englischen Presse, installierte ein simples, aber funktionierendes Spielsystem, impfte den Spielern Selbstvertrauen ein und wurde in den Tagen von Russland zu einem bemerkenswerten Sympathieträger. Southgate ist im öffentlichen Umgang aufmerksam, höflich, auskunftsfreudig, bisweilen sogar humorvoll und selbstironisch. Diesem Trainer, dieser Mannschaft, dieser ehrlichen und effektiven Spielweise wurden in England plötzlich nicht nur Erwartungen entgegengebracht, es gab auch sehr viel Zuneigung.
Die Macht von schmerzvollen Niederlagen
Der Wandel ging sogar so weit, dass selbst ausländische Beobachter ins Schwärmen gerieten und Fußball-Anhänger in Deutschland, die ausnahmsweise selbst mal enttäuscht wurden, zur englischen Mannschaft überliefen. Wie ein Reflex gehörte es dann nach der 1:2-Halbfinalniederlage gegen Kroatien auch allenthalben dazu, England zum Favoriten für die folgenden großen Turniere zu ernennen. Junges Team, intelligenter Trainer, Spieler aus vielen Top-Klubs, nun reicher an Turniererfahrung - all das müsste doch in eine rosige Zukunft münden.
"Der Schmerz über die Niederlage wird andauern", sagte Southgate kurz nach der Pleite gegen Kroatien. Aber: "Um ein echter Gewinner zu werden, muss man auch schmerzhafte Niederlagen überstehen." Tatsächlich kann aus Misserfolgen etwas Großes entstehen, zwei Champions-League-Titel des FC Bayern (2001 und 2013) gehen der Legende nach auf zuvor erlittene Finalniederlagen zurück.
Im Fall der englischen Nationalmannschaft muss aber die Frage erlaubt sein, ob die Sympathie das analytische Auge trübt. Es sprach im Vorfeld des Halbfinals einiges für England, die Mentalität der Kroaten gab letztlich jedoch den Ausschlag. Auf dem Weg zu einem absoluten Spitzenteam muss sich in den kommenden Jahren einiges verbessern:
- Zentrales Mittelfeld: Hier war der größte Unterschied zu Kroatien zu erkennen. Luka Modric wurde nach mäßigem Start immer besser, eroberte wichtige Bälle, spielte kluge Pässe, verlagerte das Spiel und wurde zum Gesicht der Übermacht im Mittelfeld. Modric und Marcelo Brozovic kamen auf Passquoten von 89 Prozent, auf der Gegenseite fiel Jordan Henderson mit 73 Prozent deutlich ab. England braucht einen spiel- und kampfstarken Anführer im Mittelfeld.
- Abhängigkeit von Standards und Kane: Neun der zwölf englischen WM-Tore fielen nach ruhenden Bällen, die Hälfte der englischen Ausbeute ging auf das Konto von Kapitän Harry Kane. Es ist wichtig, sich auf solche Stärken verlassen zu können, aber das Spiel gegen Kroatien hat gezeigt, wie wichtig verschiedene Optionen sind. Southgate ist nun gefragt, dem Spiel der englischen Mannschaft mehr taktische Tiefe zu geben.
- Führungsrollen in Top-Klubs: Gegen Ende des Halbfinales standen alle fünf Tottenham-Profis des englischen Kaders auf dem Platz. Das ist einerseits gut, weil Kane, Dele Alli oder auch Eric Dier absolute Leader in ihrem Klub sind. Auf der anderen Seite ist es aber auch eine Mangel, wenn Kyle Walker, Raheem Sterling oder Jesse Lingard zwar Stamm-, aber eben keine Führungsspieler sind und Jordan Pickford oder Harry Maguire bei Mittelfeldteams kicken. Die internationale Premier League sollte mehr englische Spieler in Führungsrollen bringen.
Für England und Trainer Southgate gibt es noch viel zu tun. Geht die Entwicklung weiter, können die Löwen in der Zukunft auch mal in einem Finale brüllen.