Eislauf-Trainerin Jutta Müller
Die eisige Königin
Jutta Müller wird heute 90 Jahre alt, das ist ein Grund zum Feiern. Es ist schließlich das, was man ein stolzes Alter nennt. Die Stadt Chemnitz bejubelt ihre Ehrenbürgerin, der Mitteldeutsche Rundfunk macht das, was der MDR am liebsten tut: Er strahlt am Sonntag einen bunten Abend ihr zu Ehren aus.
Man kann die Geschichte der vermutlich berühmtesten Eiskunstlauftrainerin der Welt, der Frau, die Katarina Witt groß machte, aber nicht erzählen, ohne auf einen anderen runden Geburtstag zu schauen.
Gaby Seyfert hat vor gut drei Wochen ihren 70. Geburtstag gefeiert. Seyfert war der erste Wintersport-Star der DDR, sie war Eiskunstlauf-Welt- und Europameisterin, sie hat Olympiasilber 1968 in Grenoble gewonnen, und sie ist die Tochter von Jutta Müller. Diese Mutter-Tochter-Beziehung sagt viel darüber aus, wie das Eiskunstlaufen mal war und wie das Sportsystem DDR funktionierte.
Pflichterfüllung war das Wichtigste
Zunächst war Müller selbst Eisläuferin, nach dem Krieg wurde sie ostdeutsche Meisterin im Paarlauf, gemeinsam mit ihrer Freundin Irene Salzmann, es gab noch zu wenige Männer, die "lagen in Stalingrad unter der Erde oder waren in Gefangenschaft", hat Müller das trocken kommentiert.
Irgendwann entschied der mächtige DDR-Sportpatriarch Manfred Ewald, Müller sei mit Mitte 20 zu alt zum Laufen, sie habe jetzt Trainerin zu sein. Müller sagt, sie habe "geheult vor Wut" über die Entscheidung, aber sie hat sich gefügt. Disziplin. Müller war 1946 bereits in die SED eingetreten, für sie war das, was die Partei beschloss, eine Pflicht, die man zu erfüllen hatte.
Sie wurde Trainerin, und all ihr Ehrgeiz übertrug sich auf die Arbeit mit ihrer ersten ambitionierten Schülerin. Das war ihre Tochter.
Ab sofort hieß ihr Ziel: "Mit ihr zu erreichen, was ich nicht schaffen konnte", wie sie der "Sächsischen Zeitung" mal sagte. Für das Mädchen Gaby Seyfert gab es ab sofort nur noch Eiskunstlauf. "Das Frühstück begann mit dem Thema Eiskunstlaufen, und das Abendbrot endete damit", sagte Seyfert in der Rückschau.
An der Bande im Pelzmantel
Müller hat später gesagt, es sei für ihre Tochter "vielleicht nicht so gut gewesen", von der eigenen Mutter trainiert zu werden. Die Strenge, der Drill - Müller hat ein Bild vom Trainerinnen-Typ im Eiskunstlauf geprägt, das noch heute bei vielen im Kopf ist, wenn man an diese Sportart denkt: An der Bande im eleganten Pelzmantel, mit Klunkern an den Fingern, und gleichzeitig voller Ehrgeiz, voller Disziplin. Gegen sich selbst genauso hart wie gegen ihre Schützlinge. Sie wurde analog zur britischen Premierministerin Margaret Thatcher die "eiserne Lady" genannt, sie hat den Titel mit Stolz getragen.
"Die einzige, die mich anschreien durfte, war Frau Müller", hat Katarina Witt im "ZEIT-Magazin" gesagt. Sie nennt sie heute noch, nach so vielen Jahren, "Frau Müller". Es wäre ihr nie in den Sinn gekommen, ihre Trainerin zu duzen.
Frau Müller brachte ihre Tochter zur Weltspitze, so wie sie später Anett Pötzsch, Jan Hoffmann und Katarina Witt in die Weltspitze führte. Das Olympiagold von Sapporo 1972 war Gaby Seyfert so gut wie sicher. Ihre schärfste Konkurrentin, Peggy Fleming aus den USA, war ins Profilager gewechselt. Der Weg war frei für Müller und Seyfert.
Aber dann passierte zwei Jahre zuvor etwas, das nicht in die Trainingspläne der Chemnitzer Eishalle passte. Seyfert verliebte sich. Ihre Mutter fand, dass dies das Projekt Olympia zu sehr stört, "letztlich forderte sie eine Entscheidung: Liebe oder Sport", sagt Seyfert. Die Läuferin fällte ihre Entscheidung: Sie beendete 1970 ihrer Karriere von jetzt auf gleich. Ein Affront auch gegen die Sportführung der DDR, ein Affront gegen die eigene Mutter.
Seyfert wurde Pötzsch weggenommen
Seyfert wurde Trainerin, und sie wurde eine gute Trainerin. Sie entdeckte ein junges Talent: Anett Pötzsch. Eine, die genauso gut zu werden schien wie Seyfert selbst. Das war die Stunde, in der sich die Funktionäre an der Abtrünnigen rächen konnten. Sie entschieden, dass Pötzsch in die Hände einer erfahreneren Trainerin gehört: Jutta Müller. Also wurde Anett Pötzsch Olympiasiegerin in Lake Placid 1980, Jutta Müller war die Frau an der Bande, ihre Tochter schmiss den Trainerjob hin.
Müller hat gesagt, sie habe ihre "harte Linie nie bereut, denn auch im normalen Leben ist Disziplin die wichtigste Voraussetzung für eine persönliche Karriere. Die Läufer müssen das machen, was der Trainer sagt". So haben sie alle gedacht, die Meistermacher von einst: von Carlo Fassi, der Robin Cousins und Scott Hamilton zu Weltstars machte, über Müller bis zum russischen Startrainer Stanislaw Schuk, Coach des legendären Paares Irina Rodnina und Alexander Saizew.
Für sie wäre es unvorstellbar gewesen, dass eine Eisläuferin sich ihre Trainer selbst und selbstbewusst aussucht, wie es die Goldmedaillengewinnerin Aljona Savchenko vor den Olympischen Spielen von Pyeongchang getan hat. Noch gibt es sie, die Abhängigkeitsverhältnisse im Eiskunstlauf, aber die Dinge sind dabei, sich zu verändern. Das Trainersystem Müller hat sich überholt. Auch das ist ein Grund zum Feiern.