"Tatort" über Kriegsverbrecher
Servus, Karadzic!
Eigentlich müsste er tot sein. Niedergestreckt aus nächster Nähe durch einen ehemaligen serbischen Elitesoldaten. Doch Mirko Gradic (Christoph Bach) hatte Glück. Die in Wien grassierende Grippewelle erfasst den Lastwagenfahrer, die Auslieferung übernahm ein Kollege, jetzt liegt da der Ersatzfahrer auf dem Parkplatz eines Einkaufszentrums im eigenen Blut. Der Manager des Kommerztempels ereifert sich derweil im widerlichsten Schmäh darüber, dass sie sich doch alle schön untereinander umbringen sollen, die Ausländer, die Studenten und all die anderen Asozialen. Es klirrt vor Kälte in diesem "Tatort", der Wien von seiner scheußlichsten Seite zeigt.
Für den vorerst verschonten Gradic wird es trotzdem nichts mit einem Vormittag im Bett: Der Killer dringt in seine Wohnung ein, Gradic springt im Schlafanzughose aus dem dritten Stock auf ein Autodach, sprintet halbnackt über die Kreuzung, hastet in den U-Bahn-Tunnel, stürmt in die Bahn, steigt am Hauptbahnhof aus, öffnet ein Schließfach und schließt sich mit dem Inhalt auf dem Klo ein: ein Tagebuch, in dem penibel alle Gräueltaten der serbischen Elite-Einheit "Heilige Tiger" vermerkt sind, die diese während des Kosovo-Kriegs verübt hat.
Die Gefühle in diesem winterlichen "Tatort" sind eingefroren wie die Straßen, trotzdem ist hier alles in Bewegung. Es gibt keine Ruhe, kein Verstehen. Major Moritz Eisner (Harald Krassnitzer) schaut mit gripperoter Nase und blutunterlaufenen Augen aufs Geschehen, er will zurück ins Bett. Kollegin Bibi Fellner (Adele Neuhauser) sprudelt über vor Energie; seit die Alkoholikerin trocken ist, dimmt nichts mehr ihr Bewusstsein. Ihre neuen Rauschmittel: heiße Zitrone und rohe Knoblauchzehen. Hält die Viren fern, bläst den Kopf durch. Kapieren tut Fellner trotzdem nicht, wer in ihrer Stadt wen bekämpft.
Wer hat mehr Leichen in seinem Quartett?
Wien sei die "viertgrößte serbische Stadt der Welt" heißt es einmal im Film; die Verteilungsschlachten, die innerhalb dieser Ethnie toben, bleiben allerdings unübersichtlich: Alte serbische Wölfe treffen hier auf Aussteiger wie Gradic, schon vor Jahrzehnten aus Ex-Jugoslawien ausgewanderte Familien auf junge Neo-Nationalisten.
Den Ermittlern schwant das Ausmaß des neuen Falls erst, als auf einmal Vertreter von Interpol in ihrem Büro stehen, um ihnen den Fall abzunehmen. Wer besitzt hier die Kompetenzen? Eisner pocht auf seine Ermittlungshoheit, schließlich gehe es um Mord; die Frau von Interpol sieht sich verantwortlich, man untersuche doch einen Völkermord. Eisner motzt: "Wollen sie jetzt mit mir Quartett spielen? Wer hat mehr Leichen?"
Im Gegensatz zu Hans-Christian Schmids schmerzhaft präzisem Justizdrama "Sturm", in dem es um die zermürbende Arbeit geht, die eine Anklägerin des Internationalen Gerichtshofs in Den Haag hat, als sie serbische Kriegsverbrecher zu überführen sucht, bleibt dieser "Tatort" an der Oberfläche der oft jahre-, wenn nicht gar jahrzehntelangen Ermittlungen in Sachen Völkermord. Am Drehbuch waren vier Autoren beteiligt (unter anderem Lukas Sturm), viele Aspekte des Themas werden nur angerissen, andere zu plakativ in den Vordergrund gestellt. Wer sich mit den serbischen Kriegsverbrechern beschäftigt hat, der wird hier in einer gütig lächelnden Figur mit Vollbart schnell den ehemaligen Serbenführer Radovan Karadzic wiedererkennen, der sich lange durch eine ähnliche Maskerade seinen Verfolgern entzog.
Trotzdem gelingt es Regisseur Fabian Eder in diesem gekonnt als klassischen Killer-Thriller inszenierten Politkrimi eine permanente Stimmung der Verunsicherung zu schaffen: Keine Familie, keine Wohnung, keine Festung gibt es in dem vollvereisten Wien dieses "Tatorts", die Schutz bieten könnten vor den Wölfen Serbiens. Der Balkankrieg, hier ist er noch nicht vorbei.
"Tatort: Kein Entkommen", Sonntag 20.15 Uhr, ARD