Boris Johnson
Der große Bluffer kommt nach Berlin
Boris Johnson möchte reden. Schon das ist ein Fortschritt: Denn bislang hat sich Großbritanniens neuer Premier geweigert, mit der EU Gespräche zu führen, solange Brüssel seine Vorbedingungen nicht erfüllt. Doch da das nicht so richtig funktioniert hat, soll es jetzt, genau vier Wochen nach seinem Amtsantritt, eine Brexit-Tour durch Europa richten.
Am Mittwoch trifft sich Johnson mit Bundeskanzlerin Angela Merkel in Berlin. Es ist sein erster Auslandsbesuch als Premierminister. Am Donnerstag geht es nach Paris. Und am Wochenende wird Johnson beim G7-Gipfel in Biarritz unter anderem auf EU-Ratspräsident Donald Tusk treffen.
Dabei hat Johnson schon vorab ein weiteres Mal klargemacht, was aus seiner Sicht passieren müsse, um den festgefahrenen Brexit-Prozess wieder in Gang zu bekommen. In einem Schreiben an Tusk forderte Johnson die EU erneut dazu auf, das Austrittsabkommen aufzuschnüren und den verhassten Nordirland-Backstop zu entfernen.
Dieser Backstop sei "undemokratisch" und stehe "nicht im Einklang mit der Souveränität des Vereinigten Königreichs". Schon heute gebe es in Irland "zwei separate rechtliche, politische, wirtschaftliche und geldpolitische Zuständigkeitsbereiche", schrieb Johnson weiter. Er legte sogar nahe, dass der Backstop den Frieden in Nordirland gefährden könne: Es werde "immer deutlicher", schrieb Johnson, "dass der Backstop das heikle Gleichgewicht" schwächen könnte, das im Karfreitags-Friedensabkommen aus dem Jahr 1998 festgelegt worden sei.
Der Backstop bleibt das größte Hindernis für einen geordneten Brexit
Und: Seine Regierung werde auf keinen Fall Grenzposten an der innenirischen Grenze errichten oder Grenzkontrollen durchführen und könne das auch verbindlich zusichern. Er hoffe, dass sich die EU ebenfalls dazu verpflichten werde.
Der Backstop ist der derzeit größte Stolperstein auf dem Weg zu einem Brexit-Deal. Vor allem die Brexit-Hardliner lehnen ihn vehement ab. Dabei handelt es sich um einen Notfallmechanismus, der verhindern soll, dass es nach dem britischen EU-Austritt wieder eine harte Grenze zwischen der Republik Irland und Nordirland gibt. Sollte bei den Gesprächen über die zukünftigen Beziehungen keine Lösung gefunden werden, mit der eine solche Grenze vermieden werden kann, dann würde dieser Mechanismus das gesamte Vereinigte Königreich auf unbestimmte Zeit in der Zollunion halten. In Nordirland würden zusätzlich weiterhin einige EU-Bestimmungen gelten.
Als die damalige Premierministerin Theresa May ihren Brexit-Deal - mit Backstop - Ende des vergangenen Jahres zu Hause präsentierte, gingen die Brexit-Hardliner auf die Barrikaden. Johnson erklärte damals gar, der Backstop würde Großbritannien "in eine dauerhafte EU-Kolonie" verwandeln.
Die Abgeordneten des Unterhauses stimmten drei Mal gegen Theresa Mays Brexit-Deal. Die zunehmend verzweifelt wirkende Versuche der Premierministerin, das Abkommen doch noch irgendwie durchs Parlament zu bekommen, scheiterten. Theresa May kündigte daraufhin ihren Rücktritt an.
Strebt Johnson einen Showdown mit der EU an?
Dabei ist der Backstop nicht nur als Versicherungspolice für den Frieden in Nordirland gedacht. Mit ihm möchte die EU auch die Integrität ihres Binnenmarkts sicherstellen. Entsprechend viel Arbeit ist in die Ausarbeitung dieses Plan geflossen: Der Backstop erstreckt sich mit seinen zehn Anhängen über 170 Seiten und macht ein Drittel des gesamten Austrittsabkommens aus.
Und so dauerte es nicht lange, bis die EU Johnsons jüngsten Vorstoß zurückwies.
- Den Backstop abzulehnen, aber keine "realistischen Alternativen" anzubieten, komme einer Unterstützung für eine harte Grenze in Irland gleich, twitterte Donald Tusk.
- Die EU-Kommission erklärte, Johnson gebe mit seinem Schreiben zu, "dass es keine Garantie dafür gibt, dass solche Vorkehrungen bis zum Ende der Übergangszeit in Kraft sein werden".
- Und auch in Deutschland hielt sich die Begeisterung in Grenzen. Angela Merkel erklärte, dass man "über praktische Lösungen" nachdenken werde. "Aber dazu müssen wir das Austrittsabkommen nicht aufmachen."
- Norbert Röttgen äußerte sich deutlicher: Johnson komme "mit leeren Händen" nach Deutschland, sagte der CDU-Außenexperte. Der britische Premier habe "mit seiner No-Deal-Politik das Land noch tiefer gespalten und in eine regelrechte Verfassungskrise geführt".
Röttgen bezieht sich damit darauf, dass Johnson bereits bei seinem Amtsantritt vor vier Wochen angekündigt hat, dass Großbritannien die EU am 31. Oktober verlassen werde, dem kommenden Brexit-Termin - und zwar "komme, was wolle". Seitdem hat er seine Minister angewiesen, die Vorbereitungen für einen ungeordneten EU-Austritt zu beschleunigen.
Legt es Johnson auf einen Showdown mit der EU an? Und sind die ganzen Vorbereitungen auf einen No-Deal-Brexit und die aggressive Rhetorik nur eine Show, mit dem Ziel, dass die EU doch noch nachgibt und sich auf seine Forderungen einlässt?
Dumm nur, dass es eigentlich klar ist, dass das alles nur ein großer Bluff ist. Erst vor wenigen Tagen berichtete eine große britische Sonntagszeitung über aktuelle interne Papiere der Regierung, aus denen hervorgeht, wie unvorbereitet das Land in Wirklichkeit auf ein solches Szenario ist. Darin ist die Rede von einer drohenden Lebensmittelknappheit, von Medikamentenengpässen, langen Lkw-Schlangen an den Häfen und von monatelangen Verzögerungen. Sollte Johnson dennoch mit seinen No-Deal-Plänen voranschreiten, könnten ihn auch die Abgeordneten des Unterhauses - die mehrheitlich gegen einen ungeordneten Brexit sind - versuchen, ihn mit einem Misstrauensvotum zu stürzen.
Johnson wird wohl bald Neuwahlen ausrufen
Trotzdem könnte es Ende Oktober zu einem chaotischen No-Deal-Brexit kommen. Denn Johnson wollte sein Leben lang Premierminister werden. Er dürfte wohl kaum tatenlos dabei zuschauen, wie ihn die Brexit-Wirren aus seinem Amtssitz in der Downing Street fegen, wie seine beiden Vorgänger Theresa May und David Cameron.
Und so gehen immer mehr Beobachter in London inzwischen davon aus, dass Johnson wohl schon bald vorgezogene Neuwahlen ausrufen könnte. Seine aggressive Rhetorik gegenüber der EU und seine ersten Versuche, der EU die Schuld am Scheitern der Gespräche in die Schuhe zu schieben, klingen stark danach. Diese Neuwahlen könnten nur wenige Tage vor dem Brexit-Termin am 31. Oktober abgehalten werden. Der Populist Johnsons dürfte dabei rhetorisch in die Offensive gehen, im Sinne von: "Boris und das Volk vs. die Abgeordneten und die EU". Damit könnte er sogar Erfolg haben.
So gesehen ist Johnsons Besuch in Berlin und Paris diese Woche vielleicht schon gar nichts anderes als eine Wahlkampfveranstaltung.