Pilger in Indien
Vollmond am Heiligen See
"Horn please" steht in großen Lettern auf jedem indischen Lastwagen. Die Folge: ein ununterbrochenes Hupkonzert, das uns nachts auf der Überlandstraße von Delhi nach Rajasthan begleitet. Das ist nervenzehrend, aber richtig gefährlich sind die Kamelfuhrwerke, die uns auf unserer Fahrspur entgegenkommen - unbeleuchtet versteht sich.
Ich kannte den Verkehr in Indien von früheren Reisen, aber er ist noch dichter und noch gefährlicher geworden. Immerhin können wir uns in heiliger Mission wähnen, wollen wir doch, gemeinsam mit mehreren Hunderttausend Hindus zum Heiligen See von Pushkar.
Wir, das sind mein Freund Thilo aus Berlin und mein Sohn David, der nach dem Abitur am Anfang einer langen Asienreise steht. Für mich ist es die 36. Reise für mein Fotoprojekt Planet Wüste, das Trockenwüsten mit Polarwüsten vergleicht.
Pushkar ist ein beschaulicher Ort am Ostrand der Wüste Thar mit nicht einmal 15.000 Einwohnern inmitten der sanften Hügel des Aravalli-Gebirges. Der Ort hat historisch und religiös große Bedeutung, besitzt er doch den einzigen bedeutenden Tempel, der dem hinduistischen Gott Brahma geweiht ist.
Der Heilige See wird gesäumt von Ghats, an denen Pilger aus ganz Indien ganzjährig ein Bad nehmen. Vor dem Vollmond des Heiligen Monats Kartik Purnima schwillt der Pilgerstrom zu einer Völkerwanderung an. In den beiden Wochen zuvor findet in den Dünen vor Pushkar einer der größten Kamelmärkte der Erde statt. Dieser löst sich gerade auf, als wir den Ort mit unserem angemieteten Tata-Auto erreichen.
Friedliche Stimmung in den Gassen
Wir kommen im Hotel Akash unter, das wie alle Hotels während des Kamelmarkts die Preise vervielfacht hat. Immerhin können wir uns auf das Dach flüchten, während sich Pilger in der Nacht vor Vollmond dicht an dicht durch die engen Gassen schieben.
Sie pendeln zwischen dem Heiligen See und dem Kamelmarkt, der von einer Art Jahrmarkt begleitet wird. Kühe scheinen neben den meditierenden Sadhus die einzigen Lebewesen zu sein, die nicht in Bewegung sind. Trotz des Drängens bleibt die Stimmung friedlich und gelassen, die Menschen sind beseelt von dem Gedanken, sich von ihren Sünden reinwaschen zu können.
In der Morgendämmerung beginnen sie zu Tausenden, sich an den hohen Stufen der Ghats zu entkleiden und ein rituelles Bad zu nehmen. Wir stehen auf der Dachterrasse eines ufernahen Hauses und sind berührt von der Spiritualität, die in diesen Stunden Pushkar erfasst. Orange Kerzen treiben auf kleinen Flößen auf dem See, wir hören die Gesänge der Pilger und aus Lautsprechern.
Am nächsten Vormittag machen wir uns auf nach Jaisalmer im äußersten Westen Rajasthans. Dort beginnt der trockenere Teil der Wüste Thar, die jenseits der nahen pakistanischen Grenze Cholistan Desert heißt. Die Nähe Pakistans hat zur Folge, dass die indischen Behörden Reisen nur in einem 40 Kilometer langen Korridor westlich von Jaisalmer erlauben. Die aus gelbbraunem Sandstein erbaute "Goldene Stadt" wird überragt von einem gewaltigen Fort, das im 12. Jahrhundert von Rawal Jaisal Singh, einem König der Batthi-Rajputen gebaut wurde.
Jaisalmer zieht Touristen aus aller Welt an, die in Tagestouren zu den 40 Kilometer westlich gelegenen Dünen bei Saim oder Khuri gefahren werden. Wir wollen mehr sehen und mieten für drei Tage einen geländegängigen Mahindra-Jeep.
Bäume als Brennholz
Die Landschaft der Thar ist weni
g spektakulär. 150 bis 350 Millimeter Niederschlag pro Jahr sorgen für schüttere Vegetation, sodass man reine Sanddünen nicht finden wird. Aufgrund der geringen und kaum zu erreichenden Grundwasservorräte fehlen hier die sonst typischen Oasen.Die Thar wird in der Literatur als "man made desert" bezeichnet. Zwar hat die Entstehung der Wüste auch klimatische Ursachen, doch ist der enorme Einfluss des Menschen auf ihre Ökologie nicht zu leugnen. Die Vernichtung des Baumbestandes - das Holz wurde als Brennmaterial und für den Hausbau verwandt - sowie die Zerstörung der Grasdecken durch Überweidung haben dazu geführt, dass die sommerlichen Niederschläge nicht mehr ausreichend in den verkrusteten Boden eindringen.
Unser Fahrer Khuba erweist sich als Glücksfall, ist er doch als Sohn eines Kamelzüchters in der Thar aufgewachsen und fährt seit 20 Jahren indische und ausländische Besucher durch "seine" Wüste. Er freut sich, dass wir von den üblichen Routen abweichen und ganz bewusst Dörfer ansteuern, um Kontakt zu Menschen zu bekommen.
Wir werden von den Kleinbauern immer mit einem Chai-Tee empfangen und in die kleinen Lehmhütten gebeten. Die Menschen leben von ihren Schaf- und Ziegenherden, manche können sogar Trockenfeldbau betreiben, der aber aufgrund einer mehrjährigen Dürre oftmals brach liegt.
Vom Hightech-Land Indien, das Raketen zum Mars schickt, ist in der Thar noch wenig zu spüren.
Zur Person
- Elfriede Martin
Martins neues Projekt: ein Vergleich zwischen Eis- und Trockenwüsten. Dafür besucht er die wichtigsten Eiswüsten der Nord- und Südhalbkugel und ihre Bewohner. Er wird mit Hunde- und Motorschlitten, per Schiff und Flugzeug und - wo immer möglich - mit dem Motorrad unterwegs sein.
- Homepage Michael Martin